Von Papier und Blut
Es gibt Dokumente, die auf Papier geschrieben werden und dennoch schwerer wiegen als Stein. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist ein solches Dokument. Am 10. Dezember 1948, in einem Paris, das noch die Wunden des Krieges trug wie ein alter Mann seine Narben, verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen jene dreißig Artikel, die seither als Leuchtfeuer der Zivilisation gelten. Oder gelten sollten.
Man muss sich das vorstellen: Die Welt hatte soeben den Abgrund gesehen. Die Schornsteine von Auschwitz waren erloschen, aber der Rauch hing noch in der Erinnerung. Hiroshima und Nagasaki hatten gezeigt, wozu die Menschheit fähig war, wenn sie sich selbst überlassen blieb. Und in diesem Moment der kollektiven Erschütterung, in diesem seltenen Augenblick der Klarheit, fanden sich Vertreter aus aller Herren Länder zusammen, um etwas zu formulieren, das eigentlich selbstverständlich sein sollte: dass jeder Mensch Rechte hat, unveräußerlich, unteilbar, einfach weil er Mensch ist.
Eleanor Roosevelt, die Witwe des amerikanischen Präsidenten, führte den Vorsitz jenes Komitees, das die Erklärung ausarbeitete. Man sagt, sie habe dabei nie die Stimme erhoben. Es war auch nicht nötig. Die Stimmen der Toten sprachen laut genug.
Das Palais de Chaillot, in dem die Erklärung angenommen wurde, blickt auf den Eiffelturm. Die Delegierten, die sich dort versammelten – Vertreter aus West und Ost, aus Nord und Süd, aus Demokratien und Diktaturen – wussten, dass sie Geschichte schrieben. Achtundvierzig Staaten stimmten zu. Keiner stimmte dagegen, obwohl sich acht der Stimme enthielten: Saudi-Arabien, Südafrika und die sechs Staaten des Ostblocks. Die Sowjetunion, so scheint es, ahnte bereits, dass diese Erklärung eines Tages gegen sie verwendet werden könnte. Sie behielt recht, wenn auch auf andere Weise, als sie es sich vorgestellt hatte.
Siebenundsiebzig Jahre später
Siebenundsiebzig Jahre sind seither vergangen. Fast acht Jahrzehnte. Und wenn wir heute, an diesem zehnten Dezember 2025, aus dem Fenster blicken – was sehen wir? Haben jene dreißig Artikel die Welt verändert? Oder hat die Welt jene dreißig Artikel vergessen, wie man einen Jugendtraum vergisst, wenn das Leben ernst wird?
Die Antwort ist, wie so oft bei wichtigen Fragen, keine einfache. Die Menschenrechte haben zweifellos Fortschritte ermöglicht. Sie haben Diktaturen delegitimiert, sie haben Unterdrückten eine Sprache gegeben, sie haben Anwälten und Richtern ein Instrumentarium in die Hand gedrückt. Gleichzeitig aber werden sie täglich gebrochen, mit einer Selbstverständlichkeit, die erschreckt. Und nirgendwo wird dieser Bruch so systematisch, so kaltblütig, so umfassend betrieben wie in der Volksrepublik China.
Man könnte nun über Tibet sprechen, über die Uiguren in Xinjiang, über die Demokratiebewegung in Hongkong. All diese Themen verdienen Aufmerksamkeit, all diese Themen verdienen Empörung. Doch an diesem Tag der Menschenrechte möchte ich den Blick auf eine Verfolgung lenken, die vielleicht weniger bekannt ist, aber nicht weniger grausam: die Verfolgung von Falun Dafa.
Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit, Nachsicht
Falun Dafa, auch Falun Gong genannt, ist eine spirituelle Praxis, die in den frühen neunziger Jahren in China entstand. Sie verbindet meditative Übungen mit einer Lebensphilosophie, die auf drei Prinzipien beruht: Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht. Man könnte meinen, dergleichen stelle keine Bedrohung dar. Man könnte meinen, ein Staat, der sich sozialistisch nennt, hätte größere Sorgen als Menschen, die im Park meditieren. Man würde sich irren.
Im Jahr 1998, zu einem Zeitpunkt also, als die Verfolgung noch nicht begonnen hatte, führte die chinesische Regierung eine Umfrage durch. Das Ergebnis muss die Machthaber erschreckt haben: Es gab mehr Praktizierende von Falun Gong als Mitglieder der Kommunistischen Partei. Siebzig bis hundert Millionen Menschen, die sich zu Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht bekannten. Siebzig bis hundert Millionen Menschen, die einer Praxis folgten, die nicht unter der Kontrolle der Partei stand.
Für ein Regime, das jede unabhängige Regung als potentielle Bedrohung betrachtet, war dies unerträglich. Die Kommunistische Partei Chinas, das muss man verstehen, duldet keine Konkurrenz. Nicht im politischen Bereich, nicht im wirtschaftlichen, nicht im spirituellen. Alle ehrenamtlichen Organisationen, alle Religionen, alle Medien, alle Bildungsinstitutionen müssen sich ihrer Kontrolle unterwerfen. Wer dies nicht tut, wird unterdrückt. Es ist ein einfaches Prinzip, und es ist ein brutales.
Ein dreifacher Befehl
Die Entscheidung zur Verfolgung traf im Wesentlichen ein Mann: Jiang Zemin, damals Vorsitzender der KPCh. Andere Mitglieder des Politbüros plädierten für einen diplomatischeren Ansatz. Sie wussten, dass Falun Gong friedlich war, dass die Praktizierenden keine politischen Ambitionen hegten. Doch Jiang Zemin setzte sich durch. Seine Motivation, so berichten Beobachter, war persönlicher Natur. Er neidete Falun Gong seine Beliebtheit. Er glaubte, durch eine Zerstörungskampagne im Stil der Kulturrevolution seine Macht festigen zu können.
Im Juli 1999 gab Jiang Zemin den Befehl, der seither Millionen Menschen das Leben zerstört hat. Er lautete, in seiner ganzen Brutalität: „Zerstört ihren Ruf, ruiniert sie finanziell und vernichtet sie physisch." Es war ein dreifacher Befehl, und er setzte den gesamten Staatsapparat Chinas in Bewegung: die Armee, die Medien, die öffentlichen Sicherheitskräfte, die Polizei, die Militärpolizei, die staatlichen Sicherheitskräfte, die Justiz, den Nationalen Volkskongress und die Diplomatie.
Doch was war es, das die Parteiführung so sehr beunruhigte? Es war nicht nur die schiere Zahl der Praktizierenden. Es war auch die Ideologie, die Falun Dafa vertritt. Die atheistische Staatspartei, die seit Maos Zeiten jeden religiösen und spirituellen Ausdruck zu kontrollieren oder zu vernichten suchte, sah in den Prinzipien von Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht eine fundamentale Herausforderung. Die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua formulierte es kurz nach Beginn der Verfolgung mit entwaffnender Offenheit: Die Prinzipien von Falun Dafa hätten nichts gemein mit dem sozialistischen, ethischen und kulturellen Fortschritt, den die Partei anstrebe.
Man muss die Ironie dieser Worte auf sich wirken lassen. Eine Partei, die Zwangsarbeitslager betreibt, in denen Menschen wegen ihrer Überzeugungen gefoltert werden, maßt sich an, über Ethik zu sprechen. Eine Partei, die ihre eigene Geschichte gefälscht, ihre Verbrechen vertuscht und jede abweichende Meinung unterdrückt hat, reklamiert für sich das Monopol auf Wahrheit. Es ist diese Verbindung von Brutalität und Heuchelei, die das System so abstoßend macht.
Im Juni 1999, noch vor dem offiziellen Beginn der Verfolgung, gründete Jiang Zemin eine spezielle Behörde: das Büro 610. Es ist eine Gestapo-ähnliche Einrichtung, die außerhalb des Gesetzes steht. Ihre einzige Aufgabe besteht darin, Falun Gong zu vernichten. Die Parallelen zur Geschichte sind offensichtlich. Sie sind gewollt.
Die Maschinerie der Lüge
Die Methoden der Verfolgung sind vielfältig und systematisch. Die Propaganda-Maschinerie des Staates wurde auf Hochtouren gebracht. Mehr als zweitausend Zeitungen und tausend Zeitschriften, alle unter absoluter Kontrolle der Partei, wurden mit Verleumdungen überflutet. Innerhalb von sechs Monaten erschienen mehr als dreihunderttausend Artikel, die Falun Gong diffamierten. Das staatliche Fernsehen sendete täglich sieben Stunden Anti-Falun-Gong-Propaganda. Die Bücher des Gründers Li Hongzhi wurden öffentlich verbrannt – eine Szene, die an dunkelste Kapitel der Geschichte erinnert.
Besonders perfide war die sogenannte Selbstverbrennung auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Januar 2001. Die staatlichen Medien behaupteten, fünf Falun-Gong-Praktizierende hätten sich selbst angezündet. Die Bilder gingen um die Welt, sie sollten beweisen, wie gefährlich die Bewegung sei. Doch Analysen des Videomaterials zeigten Ungereimtheiten. Unabhängige Beobachter kamen zu dem Schluss, dass es sich um eine Inszenierung handelte – ein Propaganda-Stunt, um die Verfolgung zu rechtfertigen.
Von Folter und Organraub
Die physische Verfolgung ist noch grausamer als die propagandistische. Mehr als siebenundachtzigtausend Fälle von Folter sind dokumentiert. Mehr als eine Million Menschen wurden in Arbeitslager gesteckt. Und dies sind nur die bestätigten Fälle, die Spitze eines Eisbergs, dessen wahre Ausmaße niemand kennt. Die Methoden der Folter sind vielfältig: Elektroschocks, Schlafentzug, Zwangsernährung, Vergewaltigungen, psychiatrische Misshandlungen. Wer Genaueres wissen will, dem sei das Studium der Berichte empfohlen. Aber man sollte einen starken Magen haben.
Das dunkelste Kapitel aber ist der Organraub. Ja, Sie haben richtig gelesen. Unabhängige Untersuchungen haben ergeben, dass Falun-Gong-Praktizierenden bei lebendigem Leib Organe entnommen werden, um sie auf dem lukrativen Transplantationsmarkt zu verkaufen. Ein unabhängiges Tribunal in London, das sogenannte China Tribunal unter Vorsitz von Sir Geoffrey Nice, kam 2019 zu einem eindeutigen Urteil: Der erzwungene Organraub findet statt, er wird vom chinesischen Staat gefördert, und die Hauptopfer sind Falun-Gong-Praktizierende. Es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das in seiner industriellen Kälte an die schlimmsten Exzesse des zwanzigsten Jahrhunderts erinnert.
Stimmen gegen das Schweigen
Man könnte nun fragen: Wo bleibt die Welt? Wo bleibt der Aufschrei? Wo bleiben die Sanktionen? Die Antwort ist ernüchternd und beschämend zugleich. Die Welt schaut weg. Die Welt hat andere Sorgen. Die Welt braucht China als Handelspartner, als Investor, als Markt.
Und doch gibt es Unterstützung. Sie kommt von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch, die seit Jahren auf die Verfolgung aufmerksam machen. Sie kommt von der Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen, die unermüdlich für die Freilassung inhaftierter Praktizierender kämpft. Sie kommt von Ärzten aus vielen Ländern, die sich gegen den Organraub einsetzen. Sie kommt von einzelnen Politikern, die den Mut haben, unbequeme Fragen zu stellen.
Das Europäische Parlament hat am 12. Dezember 2013 in einer Resolution seinen Mitgliedsstaaten empfohlen, den Organraub öffentlich zu verurteilen. Das amerikanische Außenministerium weist in seinen Jahresberichten regelmäßig auf die Verfolgung hin. Der UN-Sonderberichterstatter für Folter Manfred Nowak hat während seiner Amtszeit zahlreiche Fälle dokumentiert. Im Oktober 2025 fand bei der US-Kommission für internationale Religionsfreiheit eine Anhörung statt, bei der Experten die anhaltende Kampagne der KPCh zur vollständigen Eliminierung von Falun Gong hervorhoben. Die G7-Staaten haben transnationale Repressionen verurteilt. Es sind Zeichen der Hoffnung, aber es sind nicht genug.
Widerstand von innen
In China selbst haben mutige Anwälte versucht, Falun-Gong-Praktizierende vor Gericht zu verteidigen. Die meisten von ihnen haben dafür einen hohen Preis bezahlt: den Entzug ihrer Lizenz, Schikanen, Verhaftung, Folter. Der bekannteste unter ihnen, Gao Zhisheng, einst als „Gewissen Chinas" bezeichnet, wurde mehrfach verschleppt und gefoltert. Jahre seines Lebens verbrachte er in Isolationshaft. Sein Schicksal steht stellvertretend für alle, die es wagen, sich dem System zu widersetzen.
Seit 2015, als ein neues Gesetz die direkte Anzeige bei den obersten Justizbehörden ermöglichte, haben mehr als 196.000 chinesische Bürger Strafanzeige gegen Jiang Zemin erstattet. Es ist ein Akt des Widerstands, der angesichts der Machtverhältnisse geradezu heroisch anmutet. Denn wer in China eine solche Anzeige einreicht, riskiert selbst zum Opfer zu werden. Die Behörden reagieren auf diese Anzeigen nicht mit Ermittlungen gegen den Beschuldigten, sondern mit Repressionen gegen die Anzeigeerstatter.
Parallel dazu hat sich eine bemerkenswerte Bewegung formiert: die Tuidang-Bewegung, in der Millionen von Chinesen öffentlich ihren Austritt aus der Kommunistischen Partei und ihren angeschlossenen Organisationen erklärt haben. Es ist ein stiller Protest, der sich der vollständigen Kontrolle des Staates entzieht. Mehr als zweihundert Millionen Menschen sollen sich dieser Bewegung angeschlossen haben. Ob diese Zahl stimmt, lässt sich nicht verifizieren. Aber selbst wenn es nur die Hälfte wäre, wäre es ein Zeichen, dass der Widerstand nicht gebrochen ist.
Die Verfolgung dauert nun sechsundzwanzig Jahre an. Sechsundzwanzig Jahre systematischer Menschenrechtsverletzungen. Sechsundzwanzig Jahre Folter und Mord. Sechsundzwanzig Jahre zu lang. Millionen von Menschen in China, die nichts anderes getan haben, als meditative Übungen zu praktizieren und nach Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht zu streben, leiden weiterhin unter einer Verfolgung, die keine Anzeichen einer Abschwächung zeigt.
Eine Verpflichtung
Was bleibt zu tun? Die Antwort ist unbefriedigend in ihrer Schlichtheit: Hinsehen. Nicht wegschauen. Sich informieren. Die eigenen Abgeordneten ansprechen. Petitionen unterschreiben. Mit anderen darüber reden. Es sind kleine Schritte, gewiss. Aber aus kleinen Schritten werden Wege, und aus Wegen werden Straßen.
Edmund Burke, der große konservative Denker des achtzehnten Jahrhunderts, hat einmal gesagt: „Für den Triumph des Bösen ist nur eines notwendig: dass die guten Menschen nichts tun." Es ist ein Satz, der nichts von seiner Gültigkeit verloren hat.
Als am 10. Dezember 1948 in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet wurde, hatten ihre Verfasser einen Traum. Es war der Traum einer Welt, in der die Würde des Menschen unantastbar ist. Nicht nur auf dem Papier, sondern in der Wirklichkeit. Nicht nur für einige, sondern für alle. Siebenundsiebzig Jahre später ist dieser Traum noch nicht verwirklicht. Aber er ist auch nicht gestorben. Er lebt weiter in jedem Menschen, der sich weigert, Unrecht hinzunehmen. Er lebt weiter in jedem Praktizierenden, der trotz aller Verfolgung an Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht festhält. Er lebt weiter in jedem von uns, der den Mut hat, hinzusehen.
Der Tag der Menschenrechte ist nicht nur ein Gedenktag. Er ist eine Mahnung. Und er ist eine Verpflichtung.
Sapere aude!
S.
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